Geschwister – Fluch oder Segen
Bruderherz und Schwesterherz – Fluch oder Segen
Wenn du eine Schwester, einen Bruder oder gleich mehrere Geschwister hast, kennst du wahrscheinlich das meiste, das hier beschrieben wird, aus eigenem Erleben. Es geht aber nicht nur darum, dass und wie Geschwister einander lieben, miteinander streiten und sich wieder vertragen – wichtig ist vor allem, dass nichts davon umsonst geschieht. Die Geschwisterbeziehung schult für das ganze Leben und sollte darum auch in schwierigen Zeiten mit Optimismus betrachtet werden.
Geschwister: Eine fast magische Konstellation
Geschwister sind wie Frisuren: An schlechten Tagen denkst du, jeder andere hätte damit mehr Glück, aber bei näherem Hinsehen willst du eigentlich doch mit niemandem tauschen. Und das wäre ja auch rein technisch gar nicht möglich, denn deine Geschwister kannst du dir nicht aussuchen. Die Beziehung zu ihnen ist gewissermaßen die erste feste Partnerschaft in deinem Leben.
Die Bindung zwischen Eltern und Kindern ist etwas anderes, da sie immer auch eine Liebe zwischen zwei Generationen ist. Es gibt Grenzen zwischen den Kinder- und Erwachsenenwelten und klar verteilte Lehr- und Lernrollen. Im Gegensatz dazu ist das Verhältnis von Geben und Nehmen zwischen Geschwistern von Anfang an ein großes Thema. Sie leben – vor allem, wenn der Altersunterschied eher gering ist – in derselben Welt. Jedes registriert daher sehr genau, was es im Verhältnis zum Bruder oder zur Schwester hat, kann und darf. Dabei entsteht einerseits eine direkte Konkurrenz unter den Geschwistern und andererseits ein Wettstreit um die Liebe, Zuwendung und Zeit der Eltern.
Dass Geschwister sowohl engste Verbündete und beste Freunde als auch ständige Rivalen oder sogar erbitterte Feinde sein können, ist seit Jahrtausenden bekannt. In vielen Geschichten, Märchen, Filmen und Spielen wird die fast magische und oft konfliktbeladene Geschwisterbeziehung thematisiert, und unterm Strich bleibt meist eine Tatsache übrig: Geschwister sind zusammen immer stärker, und wenn sie sich nicht zusammenraufen können, werden sie einander trotzdem niemals wieder los.
Geschwister lernen oft mehr voneinander als von den Eltern
Was die Eltern dir als Vorbilder oder durch Erziehung fürs Leben beibringen wollen, kannst du mit deinen Geschwistern direkt ausprobieren. Manchmal funktioniert es, manchmal aber auch nicht – das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Es mag beispielsweise durchaus der bessere (und daher empfohlene) Weg sein, bei einem Streit zu diskutieren, vernünftig zuzuhören, nachzugeben und gemeinsam Kompromisse zu suchen. Trotzdem ziehen Brüder wie Schwestern manchmal den offenen Kampf vor oder entwickeln ganz individuelle Strategien, um das tägliche Miteinander zu regulieren.
Dabei haben Geschwister nahezu beliebig viele Versuche frei und können daher auch jede Menge experimentieren. So trainieren sie, sozusagen im abgesicherten Familienmodus, den Umgang mit grundlegenden zwischenmenschlichen Fragen. Sie prüfen, üben, verfeinern oder verwerfen Kommunikationsmethoden, gehen mit großen und kleinen Siegen und Niederlagen um und trainieren Empathie, Kreativität, Geduld und Selbstbewusstsein.
Da kein Kampf zwischen Geschwistern je endgültig entschieden wird, lohnt es sich bei jedem Misserfolg, es noch einmal auf andere Art zu versuchen. Meist wächst dabei ganz nebenher auch die Fähigkeit, Wichtiges von Nebensächlichem zu trennen, und die führt in der Regel zu weiteren zukunftsweisenden Erkenntnissen – beispielsweise der, dass es auch schlechte Siege und gute Niederlagen gibt, weil der innere und äußere Lohn für die Mühe entschädigen muss.
Oft leiden die Eltern, wenn Geschwister streiten
Eltern erzählen ihren streitenden Kindern gern, sie sollten sich vertragen, denn schließlich würden sie doch einander lieben etc. Oft steckt dahinter das Harmoniebedürfnis der Eltern, die bei Streitigkeiten zwischen dem Nachwuchs zudem zu Schuldgefühlen, Hilflosigkeit, Angst oder anderem Stress neigen. Hier kann ein wenig mehr Zutrauen helfen: Vertrauen in die Stärke der Kinder, aber auch in die normative Kraft des Faktischen, denn die meisten Streitereien zwischen Geschwistern enden mit einer Versöhnung bzw. einem neuen Arrangement. Reicht das Vertrauen in der Situation nicht aus, können Mutter oder Vater fragen, was los ist und worum es bei dem Konflikt geht. Die Schilderung kann beiden Seiten helfen, klarer zu sehen und schneller einen gangbaren Lösungsweg zu finden.
In den Geschwisterstreit konkret einmischen sollten sich Eltern aber nur, wenn Gefahr im Verzug ist oder wenn sie ausdrücklich darum gebeten werden. Im letzteren Fall sollten sie ihre persönliche Meinung eher als zusätzliche Sichtweise oder Vorschlag einbringen und nicht als Befehl von oben. Auch wenn sie die Eltern sind, können sie in die Köpfe ihrer Kinder nicht hineinsehen, vor allem dann nicht, wenn sie zu Beginn des Streits gar nicht dabei waren.
Auch erwachsene Geschwister schlagen und vertragen sich
Menschen verändern sich in vielerlei Hinsicht, wenn sie älter werden. Je besser sie sich selbst kennen und einschätzen, desto eher können sie später ihr Verhalten steuern, um möglichst problemlos und schmerzfrei durchs Leben zu kommen. Im Kern jedoch bleibt der Charakter weitgehend erhalten, es lohnt sich also von Beginn an, damit gut umgehen zu lernen. Geschwister halten einander ständig den sprichwörtlichen Spiegel vor. Ihre Reaktionen zeigen dir deine Aktionen noch einmal von der anderen Seite – du siehst ganz direkt, wie du damit angekommen bist und was du davon hast.
Viele Erwachsene fühlen sich nach wie vor von ihrem Bruder oder ihrer Schwester am meisten durchschaut – selbst wenn ihnen das vielleicht gar nicht (mehr) recht ist. Auch können früher Neid, frühe Verletzungen oder chronische Rivalitäten bis ins Erwachsenenalter oder sogar lebenslang fortbestehen, obwohl die Gründe dafür manchmal längst der Vergangenheit angehören. Im schlimmsten Fall leben scheinbar überwundene Geschwisterkonflikte beim Tod der Eltern als Erbstreit wieder auf, landen schließlich auf den Tischen der Richter und füllen die Taschen der Anwälte.
Der an dieser Stelle eigentlich fällige und sicher auch sehr konstruktive Rat, jeder solle sich spätestens als Erwachsener endgültig mit seinen Geschwistern vertragen, lässt sich leider nicht immer befolgen. Viele Geschwister finden sich nie richtig zusammen und ergreifen die erstbeste Gelegenheit, als Erwachsene den Kontakt zueinander abzubrechen. Doch selbst ungeliebte oder verhasste Geschwister verschwinden nicht von der inneren Bildfläche. Sie hinterlassen eine Lücke, die von keinem anderen Menschen gefüllt werden kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass Einzelkindern etwas fehlt: Längst nicht jeder Mensch wünscht sich Geschwister, aber jeder, der welche hat, hat sie sich schon einmal weggewünscht.
Wenn sich Geschwister aber gut zusammenraufen oder gar von Anfang an ein Herz und eine Seele sind, hat jedes darin eine Stütze und einen rettenden Pol für das ganze Leben. Im Idealfall können Schwester oder Bruder der Nordstern am gesprenkelten Firmament des sozialen Netzwerks sein oder Leuchtfeuer, die in schwerem Wetter den richtigen Kurs neu anzeigen. Oft sind sie zugleich die ehrlichsten Kritiker und die besten Tröster – auch wenn sie früher immer einen Schokokeks mehr bekamen, als sie eigentlich verdient hätten.
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